Deutschstunde
Es ist lange her, dass ich „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz gelesen habe.
Der Roman ist eine Bestandsaufnahme des Dritten Reiches – wie Leute zu Mitläufern wurden, ohne jedoch die Nazi-Ideologie zu billigen. Es gab eine Pflicht, der musste man gehorchen. Diese Pflicht zu hinterfragen war nicht gewollt. Und auch persönliche Beziehungen hatten sich der Pflicht unterzuordnen.
Es ist ein bedrückendes Bild, das Siegfried Lenz gezeichnet hat: Die Menschen haben für die Gesetze gelebt und vergessen, dass Gesetze für Menschen da sind – und nicht umgekehrt.
Verstöße gegen die Pflicht, bzw. das, was man als Pflicht angesehen hat, wurden freiwillig, ohne dass jemand ermittelt hat, rücksichtslos geahndet. Bis hin zu dem Punkt, dass man den eigenen Sohn verstößt.
Es ist bedrückend, wie aktuell dieses Buch wieder ist, und eigentlich immer war. Edward Snowden, Chelsea Manning, sie sind beide Beispiele für Opfer dieser Pflichterfüllung, die für sie leer war, die Pflicht vorgeschoben, um Verbrechen zu decken.
Die Mechanismen sind in jeder Generation dieselben: Es geschieht etwas, jemand hält es für seine Pflicht, einem völlig lächerlichen Gesetz zu folgen, weil es Gesetz ist. Und dann fangen Menschen an zu sterben.
Siegfried Lenz hat ein Werk geschaffen, das nachvollziehbar und unausweichlich das persönliche Drama zeigt, wenn man die Menschlichkeit durch die Pflicht ersetzt.
Siggi Jepsen endete in der Besserungsanstalt, um Bilder vor seinem Vater zu retten. Edward Snowden endete in Russland, um die Welt vor der NSA zu retten. Und Chelsea Manning sitzt im Gefängnis weil sie der Welt von schießwütigen Verbrechern erzählt hat.
Große Sprünge? Sicherlich. Aber die „Deutschstunde“ ist aktuell wie nie.
Jeder von uns steht fast täglich vor der Entscheidung „Menschlichkeit oder Pflicht“. Die beiden schließen sich nicht aus, im Idealfall ergänzen sie sich. Aber allzuoft ist tradierte Pflicht der Grund, menschliche Empathie zumindest temporär abzulegen. „Das muss ich machen, das wird verlangt“ war noch nie ein guter Grund, den eigenen moralischen Kompass auszuschalten, egal was behauptet wird, egal von wem.
Danke, Siegfried Lenz. Das Buch war zumindest für mich damals die Grundlage für viele meiner Einstellungen. Es hat lange gedauert, fast 20 Jahre. Doch die Saat ist hier aufgegangen.
Danke für das Buch. Ohne das Buch wäre auch in meinem Leben vielleicht einiges anders verlaufen. Ja, Bücher können so mächtig sein.
Und Ruhe in Frieden.
Siegfried Lenz starb heute im Alter von 88 Jahren.
Veröffentlicht am 7. Oktober 2014, in Nachdenkliches. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 3 Kommentare.
Leider werden diejenigen, die was zu sagen haben, bzw. glauben etwas zu sagen zu haben, diese Deutschstunde schwänzen, denn sie glauben zu wissen, was sie tun und diejenigen, die mahnend den Zeigefinger heben, sind in ihren Augen ahnungslose Memmen.
Gegen diese „Memmen“ wird dann noch ein wenig gehetzt, der „gesunde Volkswille“ beschworen, die, die schon etwas „verraten“ haben, werden schwer bestraft und schwups, braucht man sich keine Sorgen wegen Leuten zu machen, die mit dem Gedanken gespielt haben, Schweinereien an das Licht des Tages zu bringen, werden dann ihrerseits angeschwärzt und nicht nur bestraft, sondern auch geächtet oder ergeben sich ihrem Schicksal und halten die Klappe.
Es wird nicht mehr lange dauern, da werden auch in Deutschland „die Zügel gekürzt“ und es werden noch seltsamere Polizeigesetze kommen, als wir sie jetzt schon haben. Ich verweise da auf die USA (https://www.youtube.com/watch?v=3kEpZWGgJks) oder Australien (http://www.theguardian.com/australia-news/2014/oct/05/asio-proposal-coercive-questioning-powers-security-laws).
Dank an fefe für die Verweise.
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