Hilflos


Ein Mann liegt am Boden. Die Augen sind geschlossen, er rührt sich nicht. Es ist hellichter Tag, Passanten flanieren vorbei, ein älterer Herr stupst den am Boden liegenden mit seinem Stock an, um den Besoffenen aufzuwecken.

Denn er ist doch besoffen, richtig?

Und scheinbar glauben alle, dass man Besoffenen nicht helfen muss. Die sind an ihrem Elend selbst dran schuld. Hätten sie sich nicht so vollaufen lassen, wären sie ja nicht in ihrer bescheuerten Situation.

Und so fühlen sich die Menschen berechtigt, den am Boden liegenden anzuspucken, ihn mit dem Stock zu pieken, ihn wüst zu beschimpfen. Jemand, der helfen will, wird, der Ordnung halber, auch gleich mit beschimpft.

In meinem Beispiel war der Mensch aber nicht betrunken. Er war völlig nüchtern.

Aber er hatte einen Schlaganfall, den er nicht überlebte, weil Hilfe erst kam, als er bereits tot war. Es war ein guter Freund meiner Eltern, der mit knapp 40 starb. Es ist einige Jahre her, aber ich glaube, ich werde das so schnell nicht vergessen.

Viele Menschen sind an ihm vorbeigegangen. Viele hätten helfen können und möglicherweise hätte er noch leben können, wenn die Hilfe rasch genug gekommen wäre.

Und selbst *wenn* er betrunken gewesen wäre – was hätte es gemacht, kurz die Rettung zu informieren: „Hilflose Person xy Straße, liegt hier, rührt sich nicht.“ Dabeibleiben, bis die Rettung da ist und alles ist gut.

Denn auch Betrunkene sind Menschen. Es ist egal, ob man selbstverschuldet in einer Notlage ist. Wenn jemand Hilfe braucht, dann benötigt er Hilfe. Und keine Stockpiekser von selbstgerechten Alten, kein Bespucken von idiotischen Passanten und keine Beschimpfungen. Er braucht Hilfe. Nicht mehr und nicht weniger.

Und ganz ehrlich? ICH möchte mich nicht eines Tages fragen müssen, ob ich durch unterlassene Hilfeleistung nicht jemanden getötet habe.

Ihr?

Ich bin durch Robins Story, wo sie einem Betrunkenen geholfen hat, und durch Rhodesian Hundeikers Geschichte an den Vorfall erinnert worden. Sie half jemandem, der möglicherweise betrunken war. Und wurde dafür beschimpft.

In was für einer Welt leben wir eigentlich?

Veröffentlicht am 10. Dezember 2013, in Ärgerliches. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink. 16 Kommentare.

  1. In was für einer Welt leben wir eigentlich?

    In einer harten, sich über Ellbogen und Reichtum definierenden Gesellschaft. Egoistisch und getränkt mit sozialer Armut. Einer Gesellschaft, die mir zunehmend unsympatischer wird. Leider. Und in der ich – wohl oder übel – auch noch alt werde. Was mir Angst macht.

  2. Verstehe nicht, wie man so ignorant sein kann; helfen kostet nur ein paar Minuten und kann Leben retten.

    • Ich verstehe das auch nicht. Weil jemand betrunken ist?

      Das weiß ich nicht. Diabetiker im Schock riechen oft nach Aceton – das kann man leicht verwechseln. Schlaganfallpatienten torkeln – die sind nicht betrunken, die haben Probleme. Die Liste ist endlos.

      Aber hauptsache, man kann sich toll fühlen 😦

  3. Woher stammt die Information, dass der Mensch, der am Schlaganfall kam, bespuckt und wüst beschimpft wurde?

    • Siehe letzter Satz: Eigene Erfahrung. Es ging um einen Freund der Familie, der nach einem Schlaganfall bewußtlos am Boden lag.

      Man hat *gesehen* dass er bespuckt wurde. Und die Polizei hat hinterher Zeugen gesucht die sich auch gemeldet hatten. Im vollen Brustton der Überzeugung, es diesem „Vollgesoffski“ gegeben zu haben.

      Als Ilona das heute gepostet hat, kam die Story wieder hoch. War sehr unschön. Freundlich ausgedrückt.

      Ich würde dir gerne belastbarere Quellen liefern, wüsste aber hier aktuell ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen sollte zu suchen.

  4. Rhodesian Ridgeback

    Liebe Tante Jay
    vielen lieben Dank, für diesen
    Blogartikel 🙂

  5. ein anderer Stefan

    Oh Mann. Das möchte ich mir gar nicht ausmalen, wie das sein muss. Ich hatte auch schon mal so eine Situation, wo ein Mensch halb auf der Straße lag, aber der erwies sich als noch ansprechbar, zwar mit einiger Mühe, aber immerhin. Der war stark alkoholisiert, hat Hilfe aber abgelehnt. Tja, nach der Aussage bin ich dann auch weitergegangen. Richtiger wäre es wohl gewesen, einen Rettungswagen zu rufen. Ich habe den später noch gesehen, da gab es eine Gruppe von Menschen, die ständig unter Alkohol standen, überwiegend jüngere Männer. Zu denen gehörte er dann.

  6. „Man“ (wer?) hat also gesehen, dass er bespuckt wurde? Es kann nicht sein, dass er sich durch den Fall infolge des Schlaganfalls dreckig gemacht hat? Oder dass er sich selber eingespeichelt hat?

    Und wie ist das mit dem „wüst beschimpft“? Woher kommt diese Info?

    Bitte nicht missverstehen: Wenn es so passiert ist, ist es erbärmlich. Aber bevor ich mich empöre und mit der Schlechtigkeit der Welt hadere, würde ich gerne wissen, ob das so auch stimmt. Ich kann es mir nämlich (bei allem Zynismus) nicht vorstellen.

    Ich erlebe auch beinahe täglich „random acts of kindness“ – und würde mich freuen, mehr über so etwas zu lesen.

    • Das sind die Auskünfte, die ich damals bekommen habe und so wie es mir erzählt wurde.

      Ich war selbst nicht dabei, nur auf der Beerdigung und das war die Sache, die mir am nachhaltigsten im Gedächtnis blieb.

      Das mit dem beschimpfen und dem bespucken wurde der Familie damals so von der Polizei gesagt (hey, übergroße Sensibilität hast du in dem Job nicht immer).

      Du hast recht – wenn man das hört, ist es schwer zu glauben. Aber ich glaube, da spielte auch was anderes mit rein, was dir vielleicht nicht geläufig ist. Hast du mal im Smalltalk gehört, wie man mit Alkoholikern umgehen muss? Ich schon. Mehr als einmal.

      „Die musst du in den Boden treten. Und dann noch draufrumtrampeln, damit sie begreifen, was sie da machen. Das raffen die erst, wenn die richtig fertig sind.“ – damit bin ich aufgewachsen.

      Das ist völliger Unsinn, ich weiß. Aber viele Menschen glauben das: Wenn jemand Alkoholiker ist, musst du den zum Meerschweinchen machen, damit der begreift, dass er da einen Fehler macht.

      Dass man Traumata damit verstärkt: Geschenkt. Aber dass könnte durchaus der Hintergrund der fehlenden Hilfeleistung sein und der Beschimpfungen.

      Und natürlich, dass man so eine bequeme Ausrede hat, den eigenen Frust mal so richtig rauszulassen ohne irgendwelches schlechte Gewissen.

      • Und das ist übrigens der Grund, warum ich nach den „Gegenstories“ fahnde.

        Es gibt soviel kranken Scheiß auf der Welt, ich freu mich über jede Nachricht, die NICHT zeigt, dass alles völlig daneben ist.

  7. Mein Vater war Alkoholiker. Er starb mit gerade mal 48. Ich weiß, wie das ist — und was es für die Menschen im Umfeld bedeutet. Das nur dazu.

    Mir scheint die Geschichte aber immer noch nicht stimmig. Woher weiß die Polizei, dass der am Boden liegende Mann übel beschimpft wurde? Und wenn dir nur erzählt wurde, was die Polizei erzählt hat – dann ist das mittlerweile aus der dritten Hand und sollte nicht ausreichen, um den Stab über die Mitmenschen zu brechen.

    Gerade seit ich verstärkt auf Facebook aktiv bin, fällt mir auf, wie sehr sich Menschen alle anderen Menschen schlecht reden, um sich selbst zu erhöhen.. 95 Prozent der Leute sind der Meinung, dass 95 Prozent der Leute Idioten sind – sie aber Gottseidank zu den 5 Prozent gehören. Es ist so schön, immer nur zu schreiben, wie ekelhaft, dumm und unbelehrbar die anderen sind.

    Ich lehne mich jetzt mal weit aus dem Fenster in der Hoffnung, dir damit nicht ungebührlich auf die Füße zu treten: du hast dir diese Erinnerung so zusammen gesetzt, wie sie deinem Weltbild entspricht. Sie ist genau genommen nicht falsch – aber sie muss für diesen Zweck auch nicht wahr sein. Weil bestätigt, was du denken möchtest. Weil einem Opfer leichter zu gedenken ist, wenn man einen Täter hat, auf den man zeigen kann. Weil Kommentatoren sich gerne mit einem „Unfassbar!“ und „Furchtbar!“ solidarisieren. Es schafft eine Gemeinschaft, ein „wir Aufrechten gegen die scheiß Welt“. Ob letztlich wirklich jemand mit Schlaganfall von anderen Menschen „bespuckt und wüst beschimpft“ wurde? Zweitrangig. Die Narrative passt, es herrscht wohltuende Einigkeit.

    Ich habe letzte Woche erlebt, wie in Schwabing jemand mit dem Fahrrad gegen eine zu hohe Bordsteinkante gefahren ist und sich sauber und ohne jegliche Abfederung auf die Fresse gelegt hat. Sofort waren drei, vier Leute da, hoben das Fahrrad auf, halfen dem Gestürzten auf die Beine. Er war ungefähr 20 modisch gekleidet – und derart hackedicht, dass es um diese Uhrzeit schon als Leistung betrachtet werden muss. Ich habe mich nicht deshalb in dem Augenblick abgewandt – ich habe mich abgewandt, weil er sofort weiter fahren wollte. Sich und andere gefährdend. Er war kein hilfloses Opfer, er war ein fahrlässiger Täter. Die anderen Leute haben ihm weiter geholfen, ein Medizinstudent hat erst mal professionell gecheckt, ob seine Nase gebrochen ist. Dann haben sie ihm sein Fahrrad abgenommen und es an eine Laterne angeschlossen. Keine Vorwürfe, kein Bespucken, keine Beschimpfungen. Mitten im reichen Schwabing im kalten München.

    Gut, dafür kriege ich jetzt kein „Unfassbar!“, keine solidarisierenden und schulterklopfenden Kommentare, weil ich endlich mal gesagt habe, was gesagt werden musste. Aber meine Geschichte ist wahr, und ich weiß es, weil ich sie selbst erlebt habe.

    • Zunächst mal: Es ist nicht sehr einfach, mich zu beleidigen. Solange man mich nicht persönlich angreift und das hast du nicht (ich kenne den Unterschied) 😉

      Ja, es gibt die Begebenheiten, wie du sie nanntest. Und es gibt die Dinge die ich beschrieben habe – und das, was Ilona heute erlebt hat, hat das wieder aufgerührt und ich wollts loswerden.

      Und es gibt die Gegenbeispiele, wie du sie beschrieben hast.

      In einem irrst du aber: Ich rede mir die Menschen nicht bewußt schlecht, um ein Narrativ zu erhalten. Würde ich das tun, hätte ich meine Rubrik wo ich die Positivbeispiele sammle und auch gezielt suche, nicht eingeführt. Ich hatte übrigens neulich noch eine Diskussion mit einem Bekannten, der der Meinung war, dass die Erde ohne uns Menschen besser dran wäre. Weil wir alle so kalt zueinander wären.

      Mein Standpunkt war: Stimmt so nicht. Nicht alles ist schlecht.
      Aber manches eben doch.

      Und das wollte ich eigentlich raushauen. Deiner Reaktion nach zu urteilen ist das nicht so gelungen?

  8. Ich verstehe deine Einstellung, glaube aber eben, dass sich deine Erinnerungen und die Erzählung von Ilona unbewusst „synchronisiert“ haben, weil wir als mustersuchende Wesen gemeinsame/geteilte Erlebnisse bevorzugen.

    Du hast Recht und ich würde es nie bestreiten: Es gibt furchtbare und ekelhafte Menschen da draußen. Nicht nur gemeine und böse Menschen, sondern vor allem gedankenlose und ignorante. Aber es gibt auch die Hilfsbereiten und Selbstlosen, die Aufopfernden und stillen Helden. Ich versuche in letzter Zeit aktiv mich mehr an der zweiten Gruppe zu orientieren, um an die erste nicht zu viel Gedanken und Gefühl zu verschwenden.

    Es sei mir zum Abschluss noch einmal gestattet, nachzuhaken: Wie plausibel ist die Behauptung, der Kollabierte sei wüst beschimpft worden – und wie konnte das überhaupt verifiziert werden?

    • Das kann sein, dass das so ist. Manchmal ist das so: Du liest etwas und in dem Moment denkst du dir: „Yay, kenn ich, da war doch…“ – ich glaube, Menschen funktionieren so einfach.

      Und verifiziert wurde das nach allem was ich weiß, durch die Herren in Grün: Die müssen wohl Zeugen gesucht, gefunden und befragt haben. Der Ort da ist Dorf – da kennt jeder jeden.

      Das wurde dann auch der Familie ziemlich eisenhart auch so gesagt. Sensibel ist anders, ich weiß. Aber auch das gehört zu: So sind sie nun mal die Herrschaften.

      Die Speichelspuren fanden sich laut Bericht überwiegend auf dem Rücken – selbst einspeicheln war eher unwahrscheinlich. Und das alles rangiert unter: Nach allem was ich weiß 😉

  1. Pingback: Ulf. Mehr oder minder täglich Privatkram.

warf folgenden Kuchen auf den Teller

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